#1 – Milan Kundera: „Die Identität“
Provenienz: geschenkt bekommen von Kollegen
Ungelesen seit: anderthalb Jahren
Milan Kundera hat mich schon zwei Mal aufgeklärt. Das erste Mal ganz klassisch: Meine Eltern stellten die Erwachsenenbücher weit oben ins Regal, und ich stieg von da an regelmäßig auf einen Stuhl. So fiel mir „Das Buch vom Lachen und vom Vergessen“ in die Hände, das ein paar ziemlich explizite Szenen enthält und für eine Zwölfjährige wirklich keine Fragen mehr offen lässt.
Beim zweiten Mal war ich achtzehn Jahre alt und meinte natürlich, schon alles über Männer zu wissen. Bis „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ mich erneut aufklärte: Männer pinkeln ins Waschbecken! Also, nicht immer, aber manche, manchmal. Meine Fassungslosigkeit war groß. Der Neid auf solch anatomische Flexibilität ebenfalls.
Ich war also auf alles vorbereitet, als ich den dritten Kundera in die Hand nahm. Es ist eher ein Bändchen, sogar in dieser knuffigen Fischer-Bibliothek. Liest sich also schnell, was meist ja eher für ein Buch spricht.
Chantal und Jean-Marc leben schon seit einigen Jahren zusammen, aber nun sieht Chantal sich rapide altern. Sie ist deprimiert und sagt ihrem Freund, die Männer drehten sich nicht mehr nach ihr um. Das trifft zwar nicht den Kern ihres Problems, aber einmal ausgesprochen, mag sie die Worte nicht zurücknehmen. Also schreibt er ihr heimlich anonyme Liebesbriefe.
Bald kommt Chantal dahinter und ist wütend. Denn ihr Gefühl, wieder begehrt zu sein, hat dem Paar einen erotischen Frühling beschert, dessen Ursache Jean-Marc natürlich durchschaut. Die beiden beobachten einander argwöhnisch, bis es zum Eklat kommt: Chantal setzt sich nach London ab, trifft absurderweise auf dem Weg dorthin ihre gesamte Kollegenschaft und landet auf einer Sexparty, die in ihr plötzlich die Sehnsucht nach Jean-Marc schürt.
So weit ist das alles ganz fein. Melancholisch, hoffnungsvoll und feinfühlig. Aber dann kommt ein Schluss von der Art, die viele Leser verärgert – auch mich. Die Art, deretwegen man dem Autor Faulheit, Feigheit, eine Inspirationslücke oder alles zusammen vorwerfen möchte, selbst wenn er Milan Kundera heißt.
Und der aufklärerische Schock? Na ja, beinahe. Chantals Chef referiert: „Übrigens, man hat das Leben eines Fötus im Bauch seiner künftigen Mama gefilmt. In einer akrobatischen Stellung, die wir nicht nachmachen könnten, fellationierte er sein eigenes winziges Geschlechtsorgan.“
Das war definitiv mein WTF des Tages. Ihr könnt euch die Mühe und den peinlichen NSA-Eintrag sparen: Ich hab es schon gegoogelt und absolut nichts gefunden, was diese Behauptung belegen würde. Immerhin: Das lässt hoffen, was die ins Waschbecken pinkelnden Männer angeht. Vielleicht war das auch Quatsch. Aber das google ich jetzt nicht auch noch.
Was jetzt? In meinem Regal hat dieses Buch keine große Zukunft. Wahrscheinlich verleihe ich es erst mal an einen mir bekannten Kundera-Anhänger. Ob er will oder nicht.
Milan Kundera: „Die Identität“. Aus dem Französischen von Uli Aumüller. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2006. 170 Seiten, gebunden, 9 Euro.