Abgestumpft

Gestern Abend gab mein Arbeitgeber einen traditionsreichen Empfang. Ein hochoffiziöses Ereignis, zu dem stets ein bisschen Prominenz aufkreuzt. Manche Gesichter kennt man aus dem Fernsehen, andere sollte man kennen, erkennt sie aber nicht. Das macht die Sache jedes Jahr zu einem kleinen Spießrutenlauf. Die Hälfte der Zeit verbringe ich damit, mich zu fragen, wer das nun wieder ist.

Der Empfang findet in einer Villa statt, deren Eingangshalle meist überfüllt ist – zumindest so lange, bis jeder am Buffet war und sich mit seinem Teller in einen der Salons verzogen hat. Es ist überhaupt nicht möglich, die Halle zu durchqueren, ohne die Arme und Rücken anderer Leute mit den eigenen Schultern zu berühren.

Diesmal musste ich meinen gefüllten Teller durch dieses Gedränge balancieren, um zur Treppe zu gelangen. Manche sahen mich ankommen und machten ein bisschen Platz, an anderen musste ich mich vorsichtig vorbeischieben. Und ein mir völlig fremder Mann im berühmten besten Alter sah meinen Teller und mich an, legte völlig unnötigerweise seine Hand auf meinen Rücken und sagte: „Na, das ist aber mal eine doppelte Verlockung!“

Verlockung und Verführung. Leicht zu unterscheiden von Frauen.

Verlockung und Verführung. Leicht zu unterscheiden von Frauen.

Eine Sekunde später war ich an ihm vorbei. Ich fand sein Verhalten unverschämt, aber ich habe überhaupt nicht reagiert. Dafür gibt es viele Gründe. Der erste ist mir am Unangenehmsten: Ich kannte den Mann nicht und wollte nicht diejenige sein, die sich mit einem wichtigen Gast angelegt hat, „der doch nur freundlich sein wollte“, wie es dann immer heißt. Der zweite war, dass ich mir nicht von jemandes schlechten Manieren meine Laune und mein Abendessen ruinieren lassen wollte. Der dritte war, dass ich dazu neige, immer das humoristische Potenzial in solchen Situationen zu sehen. Erst später, als ich Kollegen davon erzählte, merkte ich an ihren entsetzten Reaktionen, dass Ärger die bessere Reaktion gewesen wäre als leichte Genervtheit.

Aber was hätte ich denn mit meinem Ärger anfangen sollen? Wir waren mitten im Gedränge, ich hatte einen vollen Teller in der Hand. Das ist übrigens eine typische Situation – wann immer mir jemand auf diese Weise zu nahe getreten ist, gab es ganz praktische Gründe, warum ich mich gerade nicht richtig wehren und etwa seine Hand wegschieben konnte. Am liebsten hätte ich meinen Teller abgestellt und einen länglichen Vortrag darüber gehalten, dass man fremde Frauen nicht als Verlockung bezeichnet, weil das sehr deutlich zeigt, dass man andere Menschen auf ihr Äußeres reduziert. Gegen all das sprachen die oben genannten Gründe.

Aber es gibt noch einen weiteren Grund, der mir heute erst klar geworden ist: Es mangelte mir an spontan verfügbarer Wut, weil ich so etwas schon häufiger erlebt habe. Ich erinnere mich sogar genau an das erste Mal. Als ich zwanzig Jahre alt war, ging ich mit meiner gesamten Klasse aus der Journalistenschule zum Bayerischen Presseball. Ich trug ein langes schwarzes Kleid mit Rückenausschnitt. Irgendwann stand ich alleine seitlich vor der Bühne und merkte, dass jemand mit dem Finger meine Wirbelsäule hinunter fuhr. Natürlich dachte ich, es sei eine meiner Kommilitoninnen. Ich drehte mich also lächelnd um und sah mich einem Fremden von etwa fünfundfünfzig Jahren gegenüber, der sagte: „Das ist aber sehr verführerisch!“ Ich war schockiert. Ich war zwanzig und sprachlos. Ich konnte nur weglaufen. Wahrscheinlich sah ich nicht mal wütend aus.

Wann immer mir so etwas in den letzten dreizehn Jahren passierte, dachte ich Dinge wie: Immerhin hat dieser mich nicht angefasst. Immerhin habe ich heute keinen nackten Rücken. Immerhin kennt der wenigstens meinen Namen, wenn auch erst seit fünf Minuten. Immerhin, immerhin, immerhin – ich bin abgestumpft. Abgestumpft von fremden Männern, die denken, mein Anblick solle ihrer Verführung und Verlockung dienen, und mir das auch noch ins Gesicht sagen.

So funktioniert das nämlich. Beim ersten Mal bist du noch zu jung und zu perplex, um dich zu wehren, und später bist du abgestumpft und froh, ein hochgeschlossenes Kleid zu tragen. Nur deshalb bekommen Männer dieser Sorte nicht viel öfter Rotwein in ihre gierigen, blöden Gesichter gekippt: Weil Frauen es gewohnt sind, dass sie sie schlecht behandeln. Weil Frauen diese Männer nicht mehr ernst nehmen – und, was schlimm ist, ihre eigenen Grenzen auch nicht mehr.

Heute weiß ich natürlich, was ich hätte sagen sollen: „Ich bin keine Verlockung, ich bin ein Mensch.“ Auch wenn er das sicher nicht verstanden hätte.

Vielleicht beim nächsten Mal.

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