Kategorie: Ernstes
#7 – Franz Kafka: „Betrachtungen über Leben, Kunst und Glauben“
Provenienz: Das muss bei mir gelandet sein, als ich mal über irgendeinen Kafka-Jahrestag geschrieben habe. Durchgelesen habe ich es damals aber nicht.
Ungelesen seit: Hm. Das könnten durchaus fünf Jahre sein.
Dieses Buch beweist absolut überzeugend, warum man ein Blog schreiben sollte: Selbst die Tagebucheinträge und Notizen von Kafka lesen sich oft unausgegoren. Einige sind auch aus dem Zusammenhang gerissen, nun gut, dafür kann er nichts. Aber die Briefe, in denen er gezwungen war, seine Gedanken etwas mehr in eine Richtung zu lenken – die sind oft einfach toll.
Die Auswahl lässt ein Bild von Kafka entstehen als Haderer, als Zauderer. Einer, der grundsätzlich schon gerne heiraten würde, der aber, sobald er sich zur Heirat entschließt, „nicht mehr schlafen kann, der Kopf glüht bei Tag und Nacht, es ist kein Leben mehr, ich schwanke verzweifelt herum.“ Einer, dem Sex unheimlich ist. Einer, der beim Schreiben mit seinen Metaphern furchtbar unzufrieden ist. Mit seinen Metaphern! Wir erinnern uns: Das ist der Mann mit dem wunderbaren Satz, ein Buch müsse die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Auch diese Bemerkung stammt übrigens aus einem Brief.
Hochinteressant sind seine Überlegungen zur Erziehung und Familie. Dass Eltern im Allgemeinen gerechter seien zu ihren Kindern als umgekehrt, zum Beispiel. Das würde ich sofort unterschreiben, aber als Kind war ich ganz sicher entgegengesetzter Auffassung – wie also herausfinden, was wahr ist? Dann verliert Kafka noch ein paar Worte über Tyrannei und Sklaverei als Erziehungsmittel. Just als ich das las, saß ich in einer U-Bahn, wo eine Mutter sich zum Sklaven ihrer Kinder gemacht hatte. Sie redeten im Befehlston mit ihr, und sie schien ganz verzaubert von ihnen. Ich weiß also nun, was Kafka meinte.
Und weil es so schön ist, habe ich hier noch ein längeres Zitat. Jahreszeitlich nicht perfekt, aber ist nicht immer irgendwie Anfang des Sommers? Dieser dauert eben noch ein bisschen.
„Es ist sehr leicht, am Anfang des Sommers lustig zu sein. Man hat ein lebhaftes Herz, einen leidlichen Gang, und ist dem künftigen Leben ziemlich geneigt. Man erwartet Orientalisch-Merkwürdiges und leugnet es wieder mit komischer Verbeugung und mit baumelnder Rede, welches bewegte Spiel behaglich und zitternd macht. Man sitzt im durcheinandergeworfenen Bettzeug und schaut auf die Uhr. Sie zeigt den späten Vormittag. Wir aber malen den Abend mit gut gedämpften Farben und Fernsichten, die sich ausdehnen. […] Und wenn man uns nach unserm beabsichtigten Leben fragt, so gewöhnen wir uns im Frühjahr eine ausgebreitete Handbewegung als Antwort an, die nach einer Weile sinkend wird, als sei es so lächerlich unnötig, sichere Dinge zu beschwören.“
Was jetzt? Wahrscheinlich wird es sich zwischen den Aphorismen von Oscar Wilde und den Gedanken von Kurt Tucholsky äußerst wohl fühlen.
Franz Kafka: „Betrachtungen über Leben, Kunst und Glauben“. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2007. 94 Seiten, Taschenbuch, 6 Euro.
#5 – Clemens Meyer: „Die Nacht, die Lichter“
Provenienz: Geschenk von Kollegen, zusammen mit einem großen Schwung anderer Bücher
Ungelesen seit: anderthalb Jahren
Clemens Meyer ist der Autor von „Im Stein“, der im Vorfeld des letzten Deutschen Buchpreises so offenkundig siegessicher war. Die Jury gab dann allerdings Terézia Moras „Das Ungeheuer“ den Vorzug, und Meyer wurde mir einerseits sehr sympathisch, weil er seine Enttäuschung so deutlich zeigte: kein verkniffenes Lächeln, kein Überspielen. Andererseits war auch viel echte Empörung dabei. So sehr von dem eigenen Werk eingenommen zu sein, dass man andere nicht gelten lassen kann – das war mir dann doch eher unsympathisch. Eine insgesamt neutrale Gefühlslage also, mit der ich seinen Kurzgeschichtenband in die Hand nahm.
„Die Nacht, die Lichter“ ist nicht nur der Titel einer der Geschichten, sondern auch ein wiederkehrendes Motiv. Eigentlich ist dauernd Nacht, und dauernd sieht jemand irgendwelche fernen Lichter. Clemens Meyer macht sich einen Spaß daraus, jede einzelne seiner Figuren ins offene Messer laufen zu lassen – je sympathischer der Mensch, desto schärfer das Messer. Das ist auf Dauer durchaus einseitig. Die Männer sind irgendwie meistens Boxer und die Frauen fast alle Prostituierte, und wenn das jetzt ein bisschen genervt klingt, habe ich alles richtig gemacht.
Meyer hat sein Studium unter anderem als Gabelstaplerfahrer finanziert. Das verschafft ihm eine wunderbare Street Credibility, wenn er über Gabelstaplerfahrer schreibt. Ich habe das Gefühl, jetzt alles darüber zu wissen, wie man die Gabel richtig anhebt, und ja, das ist durchaus interessant. Aber ich werde gleichzeitig das Gefühl nicht los, dass er eine Welt heraufbeschwört, in der sich immer alles zum Schlechten wendet, weil er ernst genommen werden will. Und Autoren, die auf hart machen, das aber sprachlich in mühevoller Arbeit drechseln, überzeugen mich nicht.
Dabei kann man dem Buch handwerklich überhaupt nichts vorwerfen. Bis auf die Tatsache, dass es keine gute Pointe ist, jede Geschichte im worst case enden zu lassen. Das macht die Lektüre etwas vorhersehbar. Die Frage ist dann nur: Verliert der Mann all sein Geld auf der Rennbahn, oder gewinnt er und wird erst auf dem Heimweg überfallen?
Was jetzt? Der nächste Kerl, der mir über den Weg läuft und den Harten markiert, bekommt es geschenkt. Und ein genervtes Kopfschütteln dazu.
Clemens Meyer: „Die Nacht, die Lichter“. Stories. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2010. 299 Seiten, gebunden, 10 Euro.
#4 – Jürg Federspiel: „Böses. Wahn und Müll“
Provenienz: Wenn ich das wüsste. Plötzlich war es da. Wahrscheinlich ist es meinem Regal von selbst gewachsen.
Ungelesen seit: Mindestens zwei Jahren. Eher länger.
Dies ist eines der Bücher, bei denen man erst mal über den Klappentext hinwegkommen muss. Denn: „Eine quirlige, prall-packende Reportagesprache mit vielen Zwischentönen ist allen diesen Geschichten gemeinsam, die eingebettet sind in Gedichte, in innere Monologe, die poetisch spürbar machen, wie sinnenfroh und zutiefst traurig über den ‚Wahn‘ und ‚Müll‘ der Autor Jürg Federspiel ist.“
Ah ja, gut. Ich hab das nicht gespürt, nicht mal poetisch, aber vielleicht fehlen mir da auch die entscheidenden Synapsen. Um genau zu sein, würde ich vermuten, mit dem „Müll“ im Titel sind, pardon, die Gedichte gemeint. Die sind nämlich schwer erträglich. Von Jürg Federspiel stammt die Erzählung „Die Ballade von der Typhoid Mary“, die ich sehr mag. Aber die ganz kurze Form scheint nicht sein Ding gewesen zu sein.
Immerhin, es gibt ja auch noch die Geschichten im Buch. Sieben an der Zahl, sehr unterschiedlich erzählt, und eigentlich müsste man sie Reportagen nennen, wenn, ja wenn Jürg Federspiel tatsächlich immer dabei gewesen wäre. Einige davon beschäftigen sich aber mit längst vergangenen Ereignissen wie dem Brand des Wiener Ring-Theaters im Jahre 1881. Aus diesem Ereignis hat er ein schräges Dramolett gemacht. Im Porträt über den Schweizer Maler Varlin geht es nicht nur um jenen, sondern auch um die Gemeinsamkeit von Autor und Maler, umgeben von Frauen aufgewachsen zu sein. Das ist einerseits befremdlich, weil vieles andere so journalistisch daher kommt, andererseits: Egal, es ist ja auch irgendwie interessant. Halten wir uns nicht mit Stilfragen auf.
Denn ein paar der Geschichten, die Federspiel an Land gezogen hat, sind wirklich außergewöhnlich. Es geht zum Beispiel um Clarence Schmidt, der in Woodstock seit den frühen 1920er Jahren eine eigene Welt schuf: einen Wald, in dem die Bäume in Alufolie eingepackt und mit Spiegeln behängt waren, ein Haus, das nicht zum Wohnen gedacht war, und Installationen, wohin man blickte. Hier sind ein paar tolle Fotos davon zu sehen. Die ganze Pracht brannte mehrmals nieder. Dann geht es noch um eine Hippie-Kommune, die eher was von Mafia hat, um eine riesige Mülldeponie und um Madame Tussaud. Die Gute stammte nämlich aus einer Henkersfamilie, hieß mit Mädchennamen Marie Grossholz und hat eine recht interessante Lebensgeschichte.
Nebenbei erfährt man fun facts wie diesen: Das Hobby von Louis XVI war Eisenschmieden. Als er kurz vor der französischen Revolution die gerade erfundene Guillotine besichtigte, schlug er vor, das Fallbeil dreieckig statt rechteckig zu schmieden. Joseph Ignace Guillotin befand die Idee für gut. Bald darauf gehörte der Hals von Louis XVI zu den ersten, die von dieser Verbesserung profitieren durften. Da lacht das Zynikerherz!
Was jetzt? Kommt zurück ins Regal. Die Geschichten darin sind Existenzberechtigung genug.
Jürg Federspiel: „Böses. Wahn und Müll.“ Suhrkamp, Frankfurt 1990. 135 Seiten, Taschenbuch, vergriffen.
#3 – Carlos Ruiz Zafón: „Der Schatten des Windes“
Provenienz: Meine Großmutter hat uns zu Weihnachten einen Schwung Bücher gekauft, und jeder sollte sich eines aussuchen. Ich wollte dieses. Bestseller, dachte ich mir, da kannste nicht viel falsch machen.
Ungelesen seit: dreizehn Monaten
Mit diesem Buch kann man wahrscheinlich Diabetiker töten. Es fängt so dermaßen überkitscht und zuckersüß an, dass ich es kaum ertragen konnte. Der wissbegierige Junge, dessen verwitweter Vater sich so rührend für ihn aufopfert in schwierigen Zeiten. Man meint, in einen Disneyfilm geraten zu sein. Diese Phase muss man erst mal überstehen.
Dann wird es aber schon richtig spannend. Der Junge, Daniel, gerät an ein Buch namens „Der Schatten des Windes“ und ist begeistert davon. Er will alles über den Autor erfahren, aber dessen Geschichte ist geheimnisvoll – und tragisch. Seine weiteren Bücher, die Daniel gerne lesen würde, sind im Laufe der vergangenen Jahre von einem Unbekannten aufgekauft oder gestohlen und verbrannt worden. Nach und nach findet Daniel in Barcelona einige Leute, die ihm etwas über den Autor verraten können. Diese Schnipsel setzt er zusammen und forscht immer weiter.
Eine überaus klassische Erzählweise also, wie in einem Detektivroman. Und glücklicherweise ist die Geschichte spektakulär genug, dass man über die Schweißnähte hinwegsehen kann. Warum nämlich ausgerechnet Daniels große Liebe sich gerne heimlich in ein bestimmtes von all den Häusern in Barcelona zurückzieht, das für seine Recherche wichtig ist – nun ja. Zafón hat diese leichten Konstruktionsschwächen ganz geschickt im Voraus dadurch rechtfertigt, dass zwischen Daniel und dem mysteriösen Autor eine Art magische Verbindung besteht. Das erlaubt ihm das Niederschreiben unglaubwürdigster Zufälle. Cleverer Schachzug.
Die kitschige Grundkonstellation wird übrigens immer mehr abgetragen, je älter Daniel wird und je mehr er von der Welt mitbekommt. In Barcelona kann man nämlich ausgerechnet der Polizei schon seit dem Bürgerkrieg in der 1930er Jahren nicht mehr trauen. Um genau zu sein: Man muss sie fürchten. Was in den Rückblenden vom Bürgerkrieg erzählt wird und was zur Zeitpunkt der Erzählung von dieser Unruhe noch übrig ist, beschreibt Zafón fast nebenbei, aber in drastischen Szenen. Das gibt dem Buch eine politische Tiefe, die es dringend braucht. Sonst könnte es nämlich fast ein ambitionierter Jugendroman sein.
Was jetzt? Ich habe es noch während des Urlaubs, in dem ich es ausgelesen habe, einem Mitreisenden geliehen. Wenn ich ihn richtig einschätze, bekomme ich es zurück. Dann landet es neben Gabriel García Márquez. Ja, ich weiß schon, der ist Kolumbianer. Aber allzu viele Spanier gibt es bisher in meinem Regal nicht.
Carlos Ruiz Zafón: „Der Schatten des Windes“. Aus dem Spanischen von Peter Schwaar. Suhrkamp, Berlin 2012. 562 Seiten, Taschenbuch, 9.99 Euro.
#1 – Milan Kundera: „Die Identität“
Provenienz: geschenkt bekommen von Kollegen
Ungelesen seit: anderthalb Jahren
Milan Kundera hat mich schon zwei Mal aufgeklärt. Das erste Mal ganz klassisch: Meine Eltern stellten die Erwachsenenbücher weit oben ins Regal, und ich stieg von da an regelmäßig auf einen Stuhl. So fiel mir „Das Buch vom Lachen und vom Vergessen“ in die Hände, das ein paar ziemlich explizite Szenen enthält und für eine Zwölfjährige wirklich keine Fragen mehr offen lässt.
Beim zweiten Mal war ich achtzehn Jahre alt und meinte natürlich, schon alles über Männer zu wissen. Bis „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ mich erneut aufklärte: Männer pinkeln ins Waschbecken! Also, nicht immer, aber manche, manchmal. Meine Fassungslosigkeit war groß. Der Neid auf solch anatomische Flexibilität ebenfalls.
Ich war also auf alles vorbereitet, als ich den dritten Kundera in die Hand nahm. Es ist eher ein Bändchen, sogar in dieser knuffigen Fischer-Bibliothek. Liest sich also schnell, was meist ja eher für ein Buch spricht.
Chantal und Jean-Marc leben schon seit einigen Jahren zusammen, aber nun sieht Chantal sich rapide altern. Sie ist deprimiert und sagt ihrem Freund, die Männer drehten sich nicht mehr nach ihr um. Das trifft zwar nicht den Kern ihres Problems, aber einmal ausgesprochen, mag sie die Worte nicht zurücknehmen. Also schreibt er ihr heimlich anonyme Liebesbriefe.
Bald kommt Chantal dahinter und ist wütend. Denn ihr Gefühl, wieder begehrt zu sein, hat dem Paar einen erotischen Frühling beschert, dessen Ursache Jean-Marc natürlich durchschaut. Die beiden beobachten einander argwöhnisch, bis es zum Eklat kommt: Chantal setzt sich nach London ab, trifft absurderweise auf dem Weg dorthin ihre gesamte Kollegenschaft und landet auf einer Sexparty, die in ihr plötzlich die Sehnsucht nach Jean-Marc schürt.
So weit ist das alles ganz fein. Melancholisch, hoffnungsvoll und feinfühlig. Aber dann kommt ein Schluss von der Art, die viele Leser verärgert – auch mich. Die Art, deretwegen man dem Autor Faulheit, Feigheit, eine Inspirationslücke oder alles zusammen vorwerfen möchte, selbst wenn er Milan Kundera heißt.
Und der aufklärerische Schock? Na ja, beinahe. Chantals Chef referiert: „Übrigens, man hat das Leben eines Fötus im Bauch seiner künftigen Mama gefilmt. In einer akrobatischen Stellung, die wir nicht nachmachen könnten, fellationierte er sein eigenes winziges Geschlechtsorgan.“
Das war definitiv mein WTF des Tages. Ihr könnt euch die Mühe und den peinlichen NSA-Eintrag sparen: Ich hab es schon gegoogelt und absolut nichts gefunden, was diese Behauptung belegen würde. Immerhin: Das lässt hoffen, was die ins Waschbecken pinkelnden Männer angeht. Vielleicht war das auch Quatsch. Aber das google ich jetzt nicht auch noch.
Was jetzt? In meinem Regal hat dieses Buch keine große Zukunft. Wahrscheinlich verleihe ich es erst mal an einen mir bekannten Kundera-Anhänger. Ob er will oder nicht.
Milan Kundera: „Die Identität“. Aus dem Französischen von Uli Aumüller. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2006. 170 Seiten, gebunden, 9 Euro.