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#37 – Karen Russell: „Vampire im Zitronenhain“
Provenienz: zum letzten Geburtstag geschenkt bekommen. Glaube ich.
Ungelesen seit: zehn Monaten
Manchmal muss man eben gleich mit der Tür ins Haus fallen. Also: Dies ist die beste Zusammenstellung von Erzählungen, die ich jemals gelesen habe. Karen Russell ist Jahrgang 1981 und gilt zu Recht als eine der besten Nachwuchsautorinnen der Vereinigten Staaten. Auf der Rückseite des Buches schaut sie etwas zaghaft aus der Wäsche, aber das täuscht. In ihrem Kopf geht nämlich ganz schön die Post ab.
„Vampire im Zitronenhain“ hebt sich von anderen Erzählungsbänden unter anderem durch die aberwitzige Vielfalt von Welten ab, die Russell ersonnen hat. Wir kennen es ja alle, dass in einem Buch jede Kurzgeschichte klingt, als widerfahre sie dem Nachbarn des Protagonisten der vorhergehenden Seiten. Das kann seinen Charme haben. Aber wenn ich es mir aussuchen kann, bevorzuge ich den wilden Ritt durch Karen Russells erstaunliche Erfindungsgabe.
Der Titel zum Beispiel. Der mag metaphorisch klingen, aber es geht in der ersten Erzählung tatsächlich genau darum: einen Vampir, der in einem Zitronenhain lebt. Weil er kein Blut mehr trinkt, sondern Zitronensaft. Erst spät hat er gelernt, dass er kein Blut braucht, dass Knoblauch ganz lecker und Sonnenlicht kein Problem ist. Seine Gefährtin hingegen macht durchaus Probleme. Man ist sich nicht mehr in allem so einig wie noch vor einigen hundert Jahren.
Die nächste Geschichte ist eine recht konventionelle Teenager-Story, dann folgt ein Ausflug ins Grusel-Genre, dann eine bitterböse Satire über ehemalige amerikanische Präsidenten, die nach ihrem Tod als Pferde in einem Stall wieder zu sich kommen. Anschließend ein Ausflug zu den jährlichen Nahrungskettenspielen in der Antarktis, Team Wale gegen Team Krill. Genau so geht es weiter, eine ungewöhnliche Idee reiht sich an die andere. Völlig ausgeflippt? Aber ja doch. Großartig!
Von ihrer unerschöpflichen Phantasie mal abgesehen, hat Karen Russell auch ein besonderes Talent für erste Sätze. Was für ein Glück, dass sie keinen Roman geschrieben hat – sonst gäbe es nur einen davon! So aber beginnen die Erzählungen wie folgt:
Im Oktober ernten die Männer und Frauen von Sorrent den primofiore oder die „Frucht der ersten Blüte“, die besonders saftigen Zitronen; im März reifen dann die hellgelben bianchetti und im Juni die grünen verdelli.
Oder auch:
Man mag sich fragen, wozu es Regeln für die Fanveranstaltungen geben soll, wenn die Nahrungskettenspiele selbst eine gesetzlose Metzelei sind.
Mein Lieblingseinstieg lautet:
Etliche von uns behaupten, Tochter eines Samurai zu sein, aber nachprüfen lässt sich das natürlich nicht mehr.
Ich mag besonders den alltäglichen Tonfall, mit dem Russell die irrsinnigsten Dinge beschreibt. Das hat mich an Douglas Adams erinnert. Vielleicht auch, weil sich so ein feinsinniger Humor durch die Geschichten zieht. Ich bin jedenfalls schwer begeistert und will mehr: Von Karen Russell sind bereits zuvor zwei Bücher auf Deutsch erschienen. Hurra!
Was jetzt? Das kommt auf eines der Regalbretter mit den meistgeliebten Büchern.
Karen Russell: „Vampire im Zitronenhain“. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Malte Krutzsch. Kein & Aber, Zürich/Berlin 2013. 319 Seiten, gebunden, 19.90 Euro