Kategorie: Libanon
#39 – Khalil Gibran: „Der Prophet“
Provenienz: Geschenk von Oma
Ungelesen seit: etwa sieben Jahren
Wo „spirituelles Kultbuch“ draufsteht, ist ja nun wirklich Vorsicht angezeigt. So auch bei diesem: Khalil Gibran war Libanese, emigrierte in die Vereinigten Staaten und bediente dort die Eso-Klientel, die es offenbar schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gab. 1931 ist der Gute gestorben, aber, lächelt und seid froh: Er hat uns dieses Buch hinterlassen.
Der rote Faden ist schnell erzählt: Ein Prophet hat zwölf Jahre lang in einer Stadt gelebt, doch nun muss er sie verlassen, weil sein Schiff kommt und ihn zurück in seine Heimat bringen wird. (Das muss ich mir merken für Konferenzen – in Momenten unerträglicher Langeweile sagen: „Oh, mein Schiff kommt!“ Und dann einfach aufstehen und gehen. Pure Grandezza.)
Die Stadtbewohner wollen ihn aber nicht einfach so gehen lassen, sondern noch ein paar Weisheiten abgreifen. Über den Genuss spricht der Prophet auf Nachfrage, über die Arbeit der nächste, über das Geben, über die Liebe. Das ist alles appetitlich in Kapiteln portioniert, die kann man immer mal anlesen und gucken, ob es zur Erleuchtung führt.
Ihr merkt vielleicht schon: Meins ist das nicht. Als Gründe für meine hochgezogene Augenbraue möchte ich exemplarisch die folgenden Sätze ins Feld führen.
Denn in Wahrheit ist es nur das Leben, das dem Leben gibt – während du, der du dich für einen Gebenden hältst, ein bloßer Zeuge bist.
Denn Müßigsein bedeutet, sich den Jahreszeiten zu entfremden und die Prozession des Lebens zu verlassen, das majestätisch und in stolzem Gehorsam auf die Unendlichkeit zuschreitet.
Vieles in euch ist noch menschlich, und vieles ist noch nicht Mensch, sondern ein ungeschlachter Zwerg, der im Schlaf durch den Nebel irrt auf der Suche nach seinem Erwachen.
Wenn ich mich davon angesprochen fühlte, würde ich mich ganz dringend um Psychopharmaka bemühen.
Aber auch in diesem Buch gibt es etwas Tolles: das Kapitel über die Kinder. Das ist womöglich einigermaßen berühmt, jedenfalls haben meine Großeltern das sehr gemocht und in den Flur gehängt. Deshalb ist es mir schon lange ein Begriff. Als Kind bin ich nicht mal über den zweiten Satz hinaus gekommen, der Anfang lautet nämlich: „Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind die Söhne und die Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst.“
Jetzt habe ich selbst eine Familie und würde das meiste davon unterschreiben. Im Wesentlichen geht es um das, was der Anfang bereits andeutet: Die Kinder gehören euch nicht, vergesst das nie. „Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, doch nicht eure Gedanken, denn sie haben ihre eigenen Gedanken. […] Ihr dürft danach streben, ihnen ähnlich zu werden, doch versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen. [...] Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder als lebendige Pfeile abgeschnellt werden.“
Diesen Teil finde ich wirklich berührend und bedenkenswert, während der Rest mich doch recht umfassend langweilte. Abgesehen von einem einzigen weiteren Gedanken; da geht es um das Spannungsverhältnis von Vernunft und Leidenschaft, das mir durchaus bekannt ist. Da werden beiden wirklich gute Rollen zugeordnet: Die Leidenschaft ist das Segel eines Bootes, und die Vernunft ist das Ruder. Nur auf die Vernunft zu hören, heißt: nicht vorwärts kommen. Und nur auf die Leidenschaft - nun, an diesem unwegsamen Ufer sind wir wahrscheinlich alle schon mal gestrandet.
Was jetzt? Das Kapitel über die Kinder hat die Existenz dieses Buches in meinem Haushalt gerettet.
Khalil Gibran: „Der Prophet“. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Mit Kalligraphien von Hassan Massoudy. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2007. 125 Seiten, broschiert, 5 Euro.
#12 – Zeina Abirached: „Das Spiel der Schwalben“
Provenienz: Der beste Bruder von allen hat es mir zu Weihnachten geschenkt.
Ungelesen seit: zweieinhalb Monaten
Meine Erfahrungen mit graphic novels kann ich ohne großes Kokettieren als verschwindend gering bezeichnen. Ich habe „Persepolis“ von Marjane Satrapi gelesen, aber das war es auch schon. Ist ja auch mal schön, vollkommen
uninformiert unvoreingenommen an die Sache heran zu gehen. Und gleich zu bemerken: Um die Bilder richtig zu verstehen, braucht man eine Weile.
Das liegt am Stil von Zeina Abirached, die Bilder wie Holzschnitte macht. Oft ist dadurch das Wesentliche weiß, und ich musste meine Sehgewohnheiten erst mal umstellen. Abirached erzählt von einer Nacht im Jahre 1984 in Ost-Beirut, mitten im libanesischen Bürgerkrieg. Sie selbst ist noch ein kleines Mädchen und wartet mit ihrem Bruder auf die Rückkehr der Eltern. In dieser Nacht ist es mit den Heckenschützen und Granaten draußen besonders schlimm, deshalb wagen die Eltern es nach einem Besuch bei der Großmutter nicht, den kurzen Weg über die gefährlichen Straßen nach Hause anzutreten.
Die Kinder haben sich in die Diele zurückgezogen, wo die Familie inzwischen fast ausschließlich lebt. Das ist der sicherste Raum der Wohnung, des Hauses sogar, weil er im ersten Stock liegt. Deshalb kommen jeden Abend die Nachbarn vorbei. An diesem Abend bringen sie Salat mit, es wird ein Kuchen gebacken, Whisky getrunken und aus „Cyrano de Bergerac“ zitiert. Alle sorgen sich um die Eltern der Kinder, aber Zeina Abirached lässt auch eine große Geborgenheit in den Bildern um ihre Figuren entstehen. Gelegentlich sind sie sogar verblüffend witzig. Die Autorin nimmt sich die Zeit, die Geschichten der Nachbarn zu erzählen, und verrät en passant viel darüber, wie liberal der Libanon in den Siebzigern schon war. Trotzdem wartet der Horror die ganze Zeit vor der Haustür.
Ich bin fast derselbe Jahrgang wie die Autorin. Es berührt mich deshalb besonders, was sie als Kind erleben musste, während ich Plastikponys gekämmt habe. Meine erste weltpolitische Erinnerung ist die an Tschernobyl, und man kann nicht behaupten, dass ich damals die Tragweite auch nur ansatzweise erfasst hätte: Ich fragte, ob der Spinat nun auch vergiftet sei, und freute mich sehr, als meine Mutter dies bejahte. Es war die Insel der Seligen, und andere Kinder lebten im Krieg. Sich das immer mal wieder bewusst zu machen, kann wirklich nicht schaden.
Was jetzt? Das Buch bleibt bei mir. Es wird sich eine gute Gesellschaft dafür finden.
Zeina Abirached: „Das Spiel der Schwalben“. Graphic Novel. Avant-Verlag, Berlin 2013. 182 Seiten, broschiert, 19.95 Euro.