Kategorie: Philosophie

#39 – Khalil Gibran: „Der Prophet“

Provenienz: Geschenk von Oma­

Ungelesen seit: etwa sieben Jahren­

wpid-2015-05-01-19.50.08.jpg.jpegWo „spirituelles Kultbuch“ draufsteht­, ist ja nun wirklich Vorsicht angezeigt.­ So auch bei diesem: Khalil Gibran war L­ibanese, emigrierte in die Vereinigten S­taaten und bediente dort die Eso-Kliente­l, die es offenbar schon in den ersten J­ahrzehnten des 20. Jahrhunderts gab. 193­1 ist der Gute gestorben, aber, lächelt u­nd seid froh: Er hat uns dieses Buch hin­terlassen.

Der rote Faden ist schnell erzählt: Ein­ Prophet hat zwölf Jahre lang in einer S­tadt gelebt, doch nun muss er sie verlas­sen, weil sein Schiff kommt und ihn zurü­ck in seine Heimat bringen wird. (Das mu­ss ich mir merken für Konferenzen – in M­omenten unerträglicher Langeweile sagen:­ „Oh, mein Schiff kommt!“ Und dann einfa­ch aufstehen und gehen. Pure Grandezza.)

Die Stadtbewohner wollen ihn aber nicht­ einfach so gehen lassen, sondern noch e­in paar Weisheiten abgreifen. Über den G­enuss spricht der Prophet auf Nachfrage,­ über die Arbeit der nächste, über das G­eben, über die Liebe. Das ist alles appe­titlich in Kapiteln portioniert, die kan­n man immer mal anlesen und gucken, ob e­s zur Erleuchtung führt.

Ihr merkt vielleicht schon: Meins ist d­as nicht. Als Gründe für meine hochgezog­ene Augenbraue möchte ich exemplarisch d­ie folgenden Sätze ins Feld führen.

Denn in Wahrheit ist es nur das Leben, ­das dem Leben gibt – während du, der du ­dich für einen Gebenden hältst, ein bloß­er Zeuge bist.

Denn Müßigsein bedeutet, sich den Jahre­szeiten zu entfremden und die Prozession­ des Lebens zu verlassen, das majestätis­ch und in stolzem Gehorsam auf die Unend­lichkeit zuschreitet.

Vieles in euch ist noch menschlich, und­ vieles ist noch nicht Mensch, sondern e­in ungeschlachter Zwerg, der im Schlaf d­urch den Nebel irrt auf der Suche nach s­einem Erwachen.

Wenn ich mich davon angesprochen fühlte­, würde ich mich ganz dringend um Psycho­pharmaka bemühen.

Aber auch in diesem Buch gibt es etwas ­Tolles: das Kapitel über die Kinder. Das­ ist womöglich einigermaßen berühmt, jed­enfalls haben meine Großeltern das sehr ­gemocht und in den Flur gehängt. Deshalb­ ist es mir schon lange ein Begriff. Als­ Kind bin ich nicht mal über den zweiten­ Satz hinaus gekommen, der Anfang lautet­ nämlich: „Eure Kinder sind nicht eure K­inder. Sie sind die Söhne und die Töchte­r der Sehnsucht des Lebens nach sich sel­bst.“

Jetzt habe ich selbst eine Familie und ­würde das meiste davon unterschreiben. I­m Wesentlichen geht es um das, was der An­fang bereits andeutet: Die Kinder gehöre­n euch nicht, vergesst das nie. „Ihr dür­ft ihnen eure Liebe geben, doch nicht eu­re Gedanken, denn sie haben ihre eigenen­ Gedanken. […] Ihr dürft danach strebe­n, ihnen ähnlich zu werden, doch versuch­t nicht, sie euch ähnlich zu machen. [..­.] Ihr seid die Bogen, von denen eure Ki­nder als lebendige Pfeile abgeschnellt w­erden.“

Diesen Teil finde ich wirklich berühren­d und bedenkenswert, während der Rest mi­ch doch recht umfassend langweilte. Abge­sehen von einem einzigen weiteren Gedank­en; da geht es um das Spannungsverhältni­s von Vernunft und Leidenschaft, das mir­ durchaus bekannt ist. Da werden beiden ­wirklich gute Rollen zugeordnet: Die Lei­denschaft ist das Segel eines Bootes, un­d die Vernunft ist das Ruder. Nur auf di­e Vernunft zu hören, heißt: nicht vorwär­ts kommen. Und nur auf die Leidenschaft ­- nun, an diesem unwegsamen Ufer sind wi­r wahrscheinlich alle schon mal gestrand­et.

Was jetzt? Das Kapitel über die Kinder ­hat die Existenz dieses Buches in meinem­ Haushalt gerettet.

Khalil Gibran: „Der Prophet“. Aus dem E­nglischen von Giovanni und Ditte Bandini­. Mit Kalligraphien von Hassan Massoudy.­ Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2­007. 125 Seiten, broschiert, 5 Euro.

#24 – Jean-Paul Sartre: „La nausée“

Provenienz: Ich kehrte von zwei Monaten Frankreich zurück und überlegte, welches Buch ich nun auf Französisch lesen könnte, um mir die Sprache präsent zu halten. Jemand riet mir zu „La nausée“. Ich habe seltsame Freunde.

Ungelesen seit: 2007

wpid-2014-08-24-15.40.01.jpg.jpegMit den ganz wichtigen und bedeutsamen Werken ist es ja immer so eine Sache. Manche habe ich vorher gefürchtet und dann geliebt. Und bei anderen dachte ich: Das war’s jetzt? Darum machen alle so einen Bohei?

Bei „La nausée“ (der deutsche Titel „Der Ekel“ ist irritierend unzutreffend) trat keine dieser beiden Reaktionen ein. Es war viel schlimmer: Ich war von den ersten Seiten an genervt. Der Erzähler ist Historiker, recherchiert in Bibliotheken herum, fühlt sich aber eigentlich der ganzen Sache nicht recht gewachsen. Ihm fehlt die Neigung seiner Berufskollegen, aus einer einzigen Handlung auf die ganze Geschichte zu schließen. Darum fügt sich das Bild über den Diplomaten Rollebon nicht recht zusammen. Das ist aber gar nicht das Hauptproblem, sondern: Da ist plötzlich dieses merkwürdige Gefühl, das er vielen Dingen und Menschen gegenüber empfindet. „Ça s’est installé sournoisement, peu à peu ; je me suis senti un peu bizarre, un peu gêné, voilà tout.“ („Es fing unbemerkt an, ganz allmählich; ich fühlte mich etwas seltsam, etwas unbehaglich, das war schon alles.“)

Ab diesem Punkt ergeht der Erzähler sich in Betrachtungen. Und die sind wunderbar geschrieben: Vom Verhalten der Herren, die im Café Karten spielen, über das Aussehen des Wirtes, bis zum Klang der Musik, die er dort hört. Außerdem hat „La nausée“ recht witzige Momente. Als der weitgereiste Erzähler nämlich erklärt, er sei ein hervorragender Erzähler von Anekdoten: „Pour l’anecdote je ne crains personne, sauf les officiers de mer et les professionnels“ – „Bei Anekdoten fürchte ich niemanden, außer Marineoffizieren und Prostituierten“.

Was mich aber unglaublich gestört hat, war die wehleidige Haltung des Erzählers. Ich weiß schon, Hauptwerk des Existenzialismus und alles, aber trotzdem wollte ich ihm dauernd einen Kakao reichen und ihn zum Jammern vor die Tür schicken. Das hat mich selbst überrascht, denn ich mag die etwas wehleidigen Erzähler ja eigentlich, siehe Genazino. Aber mir hat bei Sartre die Selbstironie gefehlt, und ja, es ist durchaus möglich, dass dieses Buch vor Selbstironie strotzt und ich es nicht gerafft habe, weil mein Französisch nicht perfekt ist. Aber ich glaube es eher nicht. Die Ironie, die sich auf die Beobachteten bezieht, habe ich nämlich durchaus mitbekommen. Davon gibt es reichlich, das ist auch durchaus amüsant.

Jedenfalls führt die neue, distanzierte Betrachtungsweise der Welt dazu, dass der Erzähler den Sinn der Existenz anzuzweifeln beginnt. Diese eine Wurzel da im Park, warum genau gibt es die? Könnte es sie nicht auch nicht geben? Warum ist sie diese und nicht eine andere? Ich erinnere mich, mir solche Fragen auch mal gestellt zu haben. Da war ich in der Pubertät und wahrscheinlich selbst ziemlich wehleidig. Also bin ich vielleicht mit der Lektüre einfach nur etwas zu spät dran, in meinem hohen Alter.

Was jetzt? Die Vernunft sagt: Schmeiß weg. Die Eitelkeit sagt: Stell’s ins Regal.
Mal sehen, wer gewinnt.

Jean-Paul Sartre: „La nausée“. Roman. Editions Gallimard, 2007. 250 Seiten, Taschenbuch, 8.80 Euro.

 

#17 – Marc Aurel: „Selbstbetrachtungen“

Provenienz: Jemand hat mir einen schlauen Satz von Marc Aurel geschickt oder vorgelesen. Daraufhin habe ich dieses Buch gekauft.

Ungelesen seit: Etwa sechs Jahren. Offenbar hatte ich doch nicht so ein großes Bedürfnis nach Schlauheiten, wie ich dachte.

14008480119670Vergangene Woche war ich fürchterlich erkältet, und an Lesen war anfangs überhaupt nicht zu denken. Als es mir etwas besser ging, stand ich vorm Bücherregal und verfluchte meine Sammlung: haufenweise anspruchsvolle Bücher, und die anwesenden Kitschromane hatte ich alle schon gelesen. Also habe ich mir fest vorgenommen, mir mal wieder ein bisschen leichte Muse zuzulegen – und zum prophylaktischen Ausgleich direkt nach Marc Aurel gegriffen. Der Mann war von 161 bis 180 römischer Kaiser und ein großer Anhänger der stoischen Philosophie. Von ihm stammt die wahrscheinlich griffigste Kurzfassung dieser Lehre:

„Alles ist wie durch ein heiliges Band miteinander verflochten! Nahezu nichts ist sich fremd. Eines schließt sich ja dem anderen an und schmückt, mit ihm vereinigt, dieselbe Welt. Aus allem zusammengesetzt ist eine Welt vorhanden, ein Gott, alles durchdringend, ein Körperstoff, ein Gesetz, eine Vernunft, allen vernünftigen Wesen gemein, und eine Wahrheit, sofern es auch eine Vollkommenheit für all diese verwandten, derselben Vernunft teilhaftigen Wesen gibt.“

Wem das jetzt schon irgendwie zu eso ist, der kann getrost woanders weiterlesen – denn Tenor und Wortwahl entsprechen der des ganzen Buches. Man braucht Muße dafür, und man sollte beim Lesen vielleicht auch nicht allzu bequem sitzen, denn sonzzzZZZZt. Wir verstehen uns.

Marc Aurel beschäftigt sich mit der Frage, wie man ein gutes Leben führt. Man soll gemeinnützige Arbeiten verrichten, sich nicht an Klatsch beteiligen, sich weder von Verfehlungen anderer noch vom Lob anderer beeinflussen lassen. Die Vernunft erscheint ihm als höchste Tugend. Angst vor dem Tod hält er für falsch – weil der Tod Teil unseres Daseinszweckes ist. Den schlauen Gedanken, dessentwegen ich das Buch gekauft habe, konnte ich übrigens nicht mehr finden. Oder nicht erkennen – vielleicht finde ich ihn heute banal. Aber es gibt immer wieder Passagen, über die es sich nachzudenken lohnt. Drei habe ich ausgewählt:

„Das Vergehen eines anderen muss man bei ihm lassen.“

„Gewöhne dich bei jeder Handlung eines anderen so viel als möglich daran, bei dir selbst zu untersuchen: ‚Worauf zielt dieser selbst damit ab?‘ Mache aber bei dir selbst den Anfang und forsche dich selbst zuerst aus!“

„Die sich gegenseitig verachten, das sind gerade diejenigen, welche einander zu gefallen streben und die sich untereinander hervortun wollen, sich voreinander bücken.“

Fasziniert hat mich, dass mehrfach die Rede von Atomen ist. Atome, kurz nach Christi Geburt? Ahem. Ich habe also erstmals seit der Oberstufe ein Physik-Thema gegoogelt und erfahren: Die griechischen Philosophen Leukipp (450–370 v. Chr.) und Demokrit (460–371 v. Chr.) stellten sich Materie bereits als Kombination vieler winziger Grundbausteine vor. Die nannten sie „atomos“. Das war allerdings eine durchaus umstrittene These, und zwar jahrtausendelang. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts kam man überhaupt in die Nähe einer experimentellen Beweisführung der Existenz von Atomen. Marc Aurel hat also einfach nur frühzeitig mit dem Wimpel des richtigen Teams gewunken und beeindruckt knapp zweitausend Jahre später noch Frauen damit: mich.

Was jetzt? Das bleibt bei mir. Es interessiert mich, ob ich es in zehn oder zwanzig Jahren ganz anders auffasse.

Marc Aurel: „Selbstbetrachtungen“. Marix Verlag, Wiesbaden 2008. 256 Seiten, gebunden, 6 Euro.