Kategorie: München

#2 – Franziska Gräfin zu Reventlow: „Herrn Dames Aufzeichnungen“

Provenienz: Ich ging in Begleitung in einen Laden, sah das Buch, sagte: „Oh, das hätte ich gern.“ Ging dann unauffällig weg und bekam es zu Weihnachten geschenkt. Subtilität hab ich voll drauf.

Ungelesen seit: zwei Jahren

Bild2Es gibt ja diese amerikanischen Highschool-Filme, in denen ein neuer Mitschüler aus der Provinz zwar nicht unfreundlich aufgenommen wird, aber doch erst mal die ganzen Modewörter lernen muss. Heimlich hofft er, bei den coolen Cliquen aufgenommen zu werden. Aber daraus wird nichts, und bei den Mädels, auf die er steht, hat er nicht den Hauch einer Chance.

Ist es nun beruhigend oder besorgniserregend, dass „Herrn Dames Aufzeichnungen“ diese Situation bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts schildern? Und zwar nicht bei Teenagern, sondern bei Erwachsenen – sofern in der wilden Schwabinger Bohème überhaupt jemand Gelegenheit hatte, richtig erwachsen zu werden. Der junge Herr Dame weiß nicht recht, was er studieren soll, wird erst mal von seinem Stiefvater nach München geschickt, um sich zu amüsieren, und landet mitten in der vergnügungssüchtigen Gesellschaft von, wie die Autorin das im Buch nennt, Wahnmoching.

(Wahnmoching nenne ich übrigens ab sofort das Gefühl, wenn man es für schlau hielt, vom Münchner Flughafen kommend in Feldmoching umzusteigen, und dann dort neunzehneinhalb Minuten warten muss.)

Franziska Gräfin zu Reventlow hat eine lesenswerte Biographie  und war selbst Teil jener Schwabinger Bohème, in die sie den Neuling schickt. 1913 veröffentlichte sie das Buch – da hatten sich die schrägen spirituellen Zirkel schon weitgehend aufgelöst. Alle Figuren sind an Freunde von ihr angelehnt, und auch sie selbst spielt eine nicht unwichtige Rolle. Trotzdem verlegt sie sich vollständig auf die Satire. Einer der Zirkel schwärmt für das Heidentum, einer nennt immer alles „kosmisch“, einer der Wortführer empfindet sich selbst als alter Römer, und enge Kontakte mit weniger Erleuchteten sind ausgesprochen unerwünscht. All das wird mit großer Ernsthaftigkeit betrieben und erinnert an eine Esoterikmesse. Immerhin gibt es noch das lebensfrohe Eckhaus, in dem Herr Dame schnell Freunde findet, mit denen er sich ins wilde Leben stürzt. Sympathische Exzentriker, eine Zierde für jedes Buch.

Die ulkigste Rolle ist der dem Dichter Stefan George nachempfundene „Meister“. Er wird geradezu kultisch verehrt und hält sich bei Empfängen stets nur im dritten Salon auf, wohin nur Eingeweihte vorgelassen werden. Einzig an Fasching mischt er sich unters Volk – wo aber bereits Vertraute von ihm sitzen und verbreiten, das sei er natürlich nicht selbst. Das sei nur irgendwer mit einer dem Meister täuschend ähnelnden Maske.

Wie der schüchterne Herr Dame da hineingeworfen wird und eifrig alles notiert, um mitzukommen – das ist wirklich entzückend und immer wieder sehr amüsant. Dazu gibt es noch eine überflüssige Rahmenhandlung, nach der Herr Dame auf einer Schiffsreise seine Aufzeichnungen einer Bekanntschaft übergibt und danach verunglückt. Diese Bekanntschaft gibt das Manuskript an einen Lektor weiter, und wir haben ihr immerhin die folgende Anmerkung zu verdanken, die so viel über das journalistische „wir“ in Reportagen verrät:

„Wie armselig, wie vereinzelt, wie prätentiös und peinlich unterstrichen steht das erzählende oder erlebende ‚Ich‘ da – wie reich und stark dagegen das ‚Wir‘. Wir können in dem, was um uns ist, irgendwie aufgehen, untergehen – harmonisch damit verschmelzen. – Ich springt immer wieder heraus, schnell wieder empor, wie die kleinen Teufel in Holzschachteln, die man auf dem Jahrmarkt kauft. Immer strebt es nach Zusammenhängen – und findet sie nicht. – Wir brauchen keinen Zusammenhang, – wir sind selbst einer.“

Was jetzt? Darf bleiben. Das stelle ich neben die „Geschichten aus dem alten München“, die ich auch mal lesen sollte.

Franziska Gräfin zu Reventlow: „Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil“. Süddeutsche Zeitung Bibliothek, München 2008. 121 Seiten, gebunden, 8.50 Euro.
(Diese Ausgabe scheint vergriffen zu sein. Es gibt das Buch aber auch beim Projekt Gutenberg.)